History of the Present (week ending 9 February 2025)
There's an amusing novel by Adam Mars-Jones in which The Queen (Elisabeth II, that is) gets rabies and everyone around her tries to carry on as if she’s behaving normally and rationally. Her Majesty is just being a little eccentric, you know.
I kept thinking of that novel this week as president Donald Trump made ever more outlandish proposals – ethnically cleansed Gaza as US-owned Riviera, for example – and everyone tried to make some sense of it. Me too.
Here are four dimensions of Trumpery. They are not mutually exclusive. There may be elements of each in every proposal.
Performative. Signing all those executive orders, making all those announcements, is a performance of strength, decisive action and fundamental change – even if half of it ends up going nowhere. It gives people the feeling that a lot is changing. One of the keys to the success of populists is that they understand that passion is as important as reason in voters' reactions. He's also ‘flooding the zone’, hogging all the attention (the new currency of our time) and keeping everyone else on the back foot. (Ezra Klein is very good on this in analysing the first few weeks of Trump’s presidency.)
Transactional. The ‘art of the deal’. You make outrageous initial demands and then settle for much less. Still, you've maybe achieved more than you might have with a more reasonable initial demand. An example would seem to be his recent deal with Mexico, after first imposing and then suspending a 25% tariff.
Imperial. This is an aspect that has emerged more strongly since the inauguration, with the territorial claims on Greenland, Canada and the Panama Canal. A return to a 19th century vision of US formal and informal empire in the western hemisphere? Perhaps a spheres of influence world, with Russia allowed dominance in Eurasia and China in East Asia?
Batshit crazy. The Mars-Jones’ Mad Queen dimension. A 78-year-old man who has long been an egomaniac and disinhibited narcissist now thinks he was spared by God from an assassin’s bullet in order to Make America Great Again. Perhaps also to save the world? His former national security advisor John Bolton, who now seems almost moderate, says that if you plot as dots on a piece of paper all the things that Trump does or proposes there is simply no way to join up the dots into a coherent pattern. But that's exactly what both his supporters and his critics keep trying to do - to discern some ‘method in his madness’. (If you got Chat GPT Pro to do a search for uses of that phrase in relation to Trump, I bet the frequency would have increased in the last fortnight.)
This is not to say that it's all madness and no method. Not at all. The man has a remarkable political instinct, and some things he definitely wants to do. Rather, the question to ask of each Trumpery move is: what's the mix of these four elements in it?
Call it the PTIB test.
The first quarter of the 21st-century – and what comes next …?
I enjoyed this conversation with Eva-Maria Schnurr and Rafaela von Bredow, both of whom are History editors at Der Spiegel. It was conducted in German in mid-January. If you don't read German, I guess one of the translation engines would give you a rough idea of what I said (but please don't quote me in Googletranslatese!)
The post-Wall period – and what comes next
SPIEGEL: Professor Garton Ash, in diesem Jahr wird das neue Jahrhundert zu einem Viertel vergangen sein. Wenn Sie einen Begriff oder einen Namen für diese Zeit finden müssten, welcher wäre das?
Garton Ash: Die Nach-Mauer-Zeit ist vorbei. Die neue Zeit hat noch keinen Namen.
SPIEGEL: Die Nach-Mauer-Zeit beginnt aber schon 1989. Eigentlich wollten wir mit Ihnen über die Zeit von 2000 bis 2025 sprechen.
Garton Ash: Kalenderdaten sind ja immer künstlich. Das lange 19. Jahrhundert ging nicht 1900 zu Ende, sondern 1914. Und das kurze 20. Jahrhundert endete 1989. Die Zeit vom 9. November 1989, als die Mauer fiel, bis zum 24. Februar 2022, als der Ukrainekrieg begann, ist eine in sich abgeschlossene Periode.
SPIEGEL: Okay, dann reden wir über die vergangenen 35 Jahre. Auf einen Nenner gebracht: Wie würden Sie diese Epoche beschreiben?
Garton Ash: Es ist die Periode der großen Fortschritte hin zu einer gefestigten liberalen Friedensordnung in Europa und der Welt. Und dann, in der zweiten Hälfte, haben wir das Ende dieser Hoffnungen – oder zum Teil Illusionen – erlebt.
SPIEGEL: Der Abstieg begann mit dem Terroranschlag des 11. September 2001 auf das World Trade Center?
Garton Ash: 9/11 war ein bedeutender Krisenmoment, doch wichtiger war der Irakkrieg 2003. Er steht für ein neues Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, für ihre Hybris, ihren Hochmut. Der Krieg der USA im Nahen Osten diskreditierte die Vision von einer liberalen, westlichen Friedensordnung.
SPIEGEL: Aber 9/11 war die Kriegserklärung an den Westen! Die Perfidie und das Ausmaß dieser Attacke hat die Islamfeindlichkeit massiv befördert, die Skepsis vieler Bürgerinnen und Bürger gegen muslimische Immigranten – Themen, die bis heute Wahlen in westlichen Ländern beeinflussen. Reden Sie 9/11 kleiner, als es war?
Garton Ash: Es stimmt schon, damals haben wir alle gesagt, dass 9/11 die Wende in der Weltgeschichte sei. Aber im Rückblick erscheint die Wende gar nicht so bedeutend. Der sogenannte globale Krieg gegen den Terror hat nicht das 21. Jahrhundert bestimmt. Für mich kam der entscheidende Bruch nach der guten ersten Phase ab 1989 tatsächlich erst im Jahr 2008, als Russland Georgien angriff und die globale Finanzkrise begann.
SPIEGEL: Warum war die Wirtschaftskrise 2008 verhängnisvoller als die Terroranschläge in den USA?
Garton Ash: Der Wandel, den sie verursacht hat, war viel schwerwiegender. In den ersten 15 Jahren der Nach-Mauer-Ära dominierten die neoliberale Wirtschaftsordnung und ein zunehmend globalisierter Kapitalismus. Es ging scheinbar unaufhaltsam voran, aber die Folgen waren große wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten; sie führten uns in die Finanzkrise, für die nicht die Banken und die Reichen bezahlten, sondern vor allem die Normalbürger und die Ärmeren. Es folgte die Austeritätspolitik in vielen Ländern, also der brutale Sparzwang, dann die Eurokrise. Es kam zu einer Kaskade von Krisen, die innenpolitisch Skepsis gegenüber der Demokratie weckten und den Populismus in vielen Ländern befeuerten.
SPIEGEL: Was hat der Georgienkrieg damit zu tun?
Garton Ash: Erst einmal gar nichts. Es sind zwei völlig unterschiedliche, voneinander unabhängige Entwicklungen, die zufällig im zeitlichen Abstand von nur ein paar Wochen passierten, aber jeweils einen immensen Einfluss auf das Weltgeschehen hatten. In Georgien änderte die Russische Föderation international anerkannte Grenzen mit Gewalt und besetzte Territorien durch einen militärischen Einmarsch. Das hatten wir in Europa seit 1945 nicht gesehen. Es war der Auftakt zu dem, was Putins Russland 2014 mit der Krim und 2022 in der Ostukraine machte.
SPIEGEL: Die Wurzeln dieser Entwicklungen liegen im Jahr 2000, als Putin an die Macht kam.
Garton Ash: In der Tat, es ist das Vierteljahrhundert Wladimir Putins und des russischen Revanchismus.
SPIEGEL: Zählen Sie Donald Trump auch zu den prägenden Figuren dieser Zeit?
Garton Ash: Ohne Zweifel. Und natürlich Xi Jinping. Diese drei.
SPIEGEL: Angela Merkel, immerhin die mächtigste Frau ihrer Zeit, war nicht wichtig?
Garton Ash: Doch, in dem, was sie nicht getan hat. In der Außen- und Europapolitik, in der Eurokrise agierte sie zu langsam und zu wenig radikal. Viel zu unentschieden zeigte sie sich auch in der Antwort auf Wladimir Putin. Außerdem ist Deutschland in eine zu große wirtschaftliche Abhängigkeit von China geraten. Und Merkel hat zu wenig gemacht hinsichtlich der Entdemokratisierung Ungarns. Als wäre das eine Bagatelle. Heute sehen wir, wie wichtig Viktor Orbán in der Russlandpolitik ist. Und in der Beziehung zu den USA: Donald Trumps Mann in Europa ist jetzt Orbán.
SPIEGEL: Das sehen Sie als Merkels Versagen?
Garton Ash: Versagen ist vielleicht zu hart, aber Versäumnisse schon. In Ungarn hätte sie eine entscheidende Rolle spielen können, auch durch Deutschlands wirtschaftliche Macht, die dort ihresgleichen sucht.
SPIEGEL: Die Neunzigerjahre waren von großem Optimismus geprägt. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten schien alles auf den Siegeszug der liberalen Demokratie herauszulaufen. Der Politologe Francis Fukuyama prophezeite gar das Ende der Geschichte. Wie naiv waren wir?
Garton Ash: Vorsicht, das wird immer wieder falsch dargestellt: Vielleicht waren wir damals optimistisch, aber noch frei von Hybris. Eher waren wir unsicher, wir wussten nicht, ob die Transformation des ehemaligen Ostblocks gelingen würde. Die Stimmung in den Neunzigerjahren lässt sich gut mit einem osteuropäischen Scherz beschreiben: Wir können ein Aquarium in eine Fischsuppe verwandeln, aber geht das auch umgekehrt? Erst als die Transformation gelungen war, um die Jahrhundertwende herum, da kam der Fukuyama-Moment – und die Hybris.
SPIEGEL: Spätestens seit 2008 reiht sich eine Krise an die nächste: Nach der Wirtschaftskrise kamen die Flüchtlingskrise, Corona, Brexit, Ukrainekrieg, Nahostkonflikt und der Aufstieg des Populismus, unter anderem. Leben wir in einem Jahrhundert der Krisen? Oder erscheint uns das nur so düster im Vergleich zu den friedlichen Jahrzehnten zuvor?
Garton Ash: Hätten wir dieses Gespräch im Jahr 1974 geführt, wären wir auch ziemlich pessimistisch gewesen. Auch damals war es eine Zeit der Krisen, in den USA gab es Watergate, den Vietnamkrieg, Großbritannien war der kranke Mann Europas, in Osteuropa begann nach dem Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei die sogenannte Normalisierung. Erst danach begann die lange Phase des Aufstiegs, weil wir Antworten, radikale Lösungen gefunden haben für unsere Probleme.
SPIEGEL: Die Antwort, die es damals auf die wirtschaftlichen Probleme gab, war der Neoliberalismus, der 2008 in die Finanzkrise mündete.
Yesterday’s solutions are tomorrow's problems
Garton Ash: Völlig richtig. Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Die soziale Marktwirtschaft in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war eine Antwort auf den ungezügelten Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts, Stichwort Große Depression. Und sie hat eine ganze Weile gut funktioniert – bis zur Krise der Siebziger, die man dann mit Neoliberalismus vermeintlich löste. Die spannende Frage ist deshalb, welche Antworten wir auf die heutigen Krisen finden werden.
SPIEGEL: Welche sind die großen Herausforderungen?
Garton Ash: Erstens die Klimakrise, verbunden mit der Frage: Wie schaffen wir es, dass mehr als acht Milliarden Menschen auf dieser Welt ein halbwegs menschenwürdiges Leben führen können? Zweitens erleben wir eine nie da gewesene technologische Revolution, mit der wir umgehen müssen. Und drittens offenbart uns der Krieg in der Ukraine, dass wir schon heute in einer postwestlichen Welt leben. Anders als in den vergangenen zwei Jahrhunderten bestimmt nicht mehr der Westen über die Agenda der Weltpolitik. Zum ersten Mal besitzen die Großmächte China, Indien, Russland und Mittelmächte wie die Türkei, Südafrika oder Brasilien zusammen die wirtschaftliche, politische und militärische Macht, um den Westen auszubalancieren.
SPIEGEL: Auch wegen einer schwachen Europäischen Union. Wie kam es, dass die EU, nach dem Mauerfall eigentlich ein Versprechen für ein geeintes Europa, im Blick vieler Menschen zu einem so unattraktiven Bürokratiemonster verkommen ist?
Garton Ash: Dazu haben wir gerade an der Universität Oxford intensiv geforscht. In unseren Meinungsumfragen sehen wir im Detail, wie skeptisch man geworden ist, was die Europäische Union anbelangt. Es sind zum Teil schockierende Zahlen. Und zwar nicht so sehr in den neuen Mitgliedstaaten, sondern vor allem in den Kernländern, in Deutschland, in Frankreich, in den Niederlanden können wir diesen Unmut sehen. Der Brexit war ein Menetekel, ein Vorzeichen drohenden Unheils, auch wenn damals alle dachten, Großbritannien sei ein Unikum mit der Idee, die EU zu verlassen. Heute bekommt in Deutschland mit der AfD eine Partei ein Fünftel der Stimmen, die nicht nur die D-Mark zurückhaben will, sondern explizit in ihr Wahlprogramm geschrieben hat, dass sie aus der EU rauswill!
SPIEGEL: Und die Gründe?
Garton Ash: Viele Europäer und Europäerinnen sind nicht zufrieden mit ihrem Leben. Sie sehen sich nicht bessergestellt oder sehen sich sogar schlechtergestellt als vor zehn oder 15 Jahren. Was neu ist: Sie verbinden diese Probleme mit dem Liberalismus und mit Europa. Ob es eine junge, arbeitslose Europäerin aus Griechenland oder Portugal ist oder jemand, der um seine Rente fürchtet oder sich wegen der Immigration um seine kulturelle Identität sorgt – alle Misere verbindet man mit und macht dafür schuldig: Europa.
PIEGEL: Die Zeit vor 2022 war keine friedliche, auch nicht in Europa. Georgien und die Krim haben Sie erwähnt, Bergkarabach, der Konflikt um Tschetschenien, der Krieg im ehemaligen Jugoslawien und, vor den Toren Europas, der Syrienkrieg. Wie konnte uns der Einmarsch der Russen in die Ukraine so schockieren?
Garton Ash: Der Ukrainekrieg war und ist ein großer zwischenstaatlicher Krieg, in dem eine nuklear bewaffnete Großmacht versucht, ein riesiges Territorium einzunehmen. Mit Konsequenzen für die Weltpolitik. Denn trotz der Tatsache, dass Russland diesen brutalen, neokolonialen Krieg führt, bleibt Putin ein offenbar akzeptabler Gesprächspartner für Großmächte wie China und Indien und Mittelmächte wie die Türkei oder Südafrika. Für die Hälfte der Welt. Der große Krieg in der Ukraine begleitet uns sozusagen hinüber in diese postwestliche Welt. Dies gibt ihm seine große geschichtliche Bedeutung.
SPIEGEL: So gesehen ließe sich die Zeit von 1990 bis 2022 als Übergang von der bilateralen Weltordnung des Kalten Kriegs zu einer neuen postwestlichen Wirklichkeit deuten?
Garton Ash: Oh nein, eine Übergangszeit war das nicht, das wäre mir deutlich zu wenig für 33 Jahre, in denen die politische Landkarte Europas, aber auch der Welt tiefgreifend verändert worden ist. Denken Sie an die Einführung des Euro, an die Osterweiterung der EU und Nato. All das lief auch noch, höchst ungewöhnlich für solche Ordnungsübergänge, weitgehend friedlich. Jetzt stehen wir am Übergang, seit 2022. Jetzt beginnt etwas Neues. Es bewegt sich gerade sehr vieles, aber wir wissen noch gar nicht, wohin das führt.
SPIEGEL: Was man schon sehen kann, hat Anne Applebaum in ihrem Buch »Die Achse der Autokraten« geschildert: Führer der Groß- und Mittelmächte, die sich gegenseitig dabei unterstützen, die liberalen Demokratien fundamental zu beschädigen. Was lässt sich dagegen ausrichten?
Garton Ash:. Ich warne vor Begriffen wie »Achse« oder »neuer Kalter Krieg«, weil da immer die ursprüngliche Bedeutung mitschwingt und den Blick verstellt auf das, was wir derzeit wirklich sehen. Eine »Achse« in dem Sinne, wie wir im Zweiten Weltkrieg von einer Achse gesprochen haben, ist das sicherlich nicht. Ich würde das eher als ein transnationales Netzwerk von Groß- und Mittelmächten bezeichnen, die im Moment komplementäre Interessen haben.
SPIEGEL: Zwischen China und Russland wirkt das Netzwerk gerade ziemlich stabil.
Garton Ash: Aber mit kleineren Partnern wie Iran oder Nordkorea kann das in zwei Jahren schon wieder ganz anders aussehen. Natürlich verstehe ich das Bedürfnis, klare Begriffe zu finden, um die Weltlage zu beschreiben: Hier sind wir, der Westen, die liberalen Demokratien, und da sind die anderen, die neue »Achse«. Aber ich glaube, diese Welt ist viel komplizierter und funktioniert in diesem Sinne viel mehr wie das Europa des späten 19. Jahrhunderts – nur jetzt global. Wir brauchen für eine neue Ära auch einen neuen Begriff, so wie es einst der »Kalte Krieg« war, so wie es die »Klimakrise« oder die »Digitale Revolution« ist.
Democracy’s need for a digital public sphere
SPIEGEL: Die digitale Revolution hat in puncto soziale Medien 2004 mit Facebook begonnen. Zugleich erlebten wir den Aufstieg des Populismus nicht nur in Europa. Wäre dieser ohne die weltumspannenden sozialen Netze denkbar gewesen?
Garton Ash: Wir waren um die Jahrtausendwende, und das gehört zur Zeit unserer großen Hybris, einem maßlosen Cyberoptimismus erlegen. Der sich inzwischen in sein Gegenteil verkehrt hat, in einen ebenso maßlosen Cyberpessimismus oder gar -fatalismus. Als ob alles, was mit dem Internet zu tun hat, schädlich wäre für den Menschen, für Kinder, für die Demokratie! Es ist doch wunderbar, wir können uns heute über Zoom unterhalten. Jeden Morgen lese ich sechs bis zwölf Zeitungen und Zeitschriften aus aller Welt auf meinem iPad, ich habe die ganze Weltliteratur zur Verfügung.
SPIEGEL: Zugleich verbreiten die sozialen Medien Fake News in nie gekanntem Ausmaß, Menschen finden sich in ihren Filterblasen und Echokammern zusammen, es wird immer schwieriger, Wahrheit von Lüge zu trennen. Wollen Sie die Gefahr für die Demokratie leugnen?
Garton Ash: Natürlich nicht. Schauen Sie, die ganze Idee der Demokratie beruht doch auf dem Prinzip, dass wir zusammenkommen wie die Griechen auf dem Pnyx vor 2500 Jahren, um miteinander zu beraten – wobei das damals natürlich nur männliche Bürger waren. Dann hören wir uns die Fakten an und wägen die Argumente ab. Sind wir für oder gegen die Abwehr der, sagen wir, angreifenden Perser auf dem Land oder zur See? Dieses absolut fundamentale Funktionsprinzip der Demokratie ist bedroht, die gemeinsame Öffentlichkeit, die Diskussion. Deswegen ist die Beibehaltung beziehungsweise Wiederherstellung der demokratischen Öffentlichkeit in unseren Ländern für mich eine der großen Aufgaben dieser Zeit.
SPIEGEL: Und wie soll das gelingen?
Garton Ash: Unbedingt die öffentlich-rechtlichen Sender beibehalten, wo es sie noch gibt. Und ihre redaktionelle Unabhängigkeit stärken. Dass das funktioniert, wissen wir. Schauen Sie nur nach Großbritannien nach dem Brexit und in die USA mit Trump – Letzteres ist ein hyperpolarisiertes Land, und dass Großbritannien es nicht mehr ist, hat viel mit der BBC zu tun. Wir kommen wieder zusammen und diskutieren miteinander. Die USA indes haben keine öffentlich-rechtlichen Medien in dem Sinne mehr.
SPIEGEL: Die Autokraten und Demokratiefeinde dieser Welt blasen aber weiterhin via Social Media ihre Lügen bis in den fernsten Erdenwinkel.
Garton Ash: Es ist die Frage, ob wir in Europa uns nur als Satelliten der großen, imperialen amerikanischen Plattformen verstehen. Wollen wir wirklich abhängig von einem Mark Zuckerberg sein, der kürzlich mitteilte, dass Facebook keine Faktenchecks mehr betreibe? Oder können wir uns selbst zusammentun und eine digitale, demokratische Öffentlichkeit schaffen?
SPIEGEL: Ein europäisches Twitter? Die Versuche, eine europäische Suchmaschine zu bauen oder die Bibliotheken zu digitalisieren, wie Google Books es längst gemacht hat, sind sämtlich in den Anfängen stecken geblieben.
Garton Ash: Es ist ja vor allem das aus China betriebene TikTok, das wir nicht im Griff haben. Kein Wunder, dass sich alle Populisten, die AfD in Deutschland oder der Rassemblement National in Frankreich, dieser Plattform bedienen. In Rumänien hat ein rechtsextremer Außenseiterkandidat es mit TikTok im November sogar geschafft, im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt zu werden!
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? Stärker regulieren?
Garton Ash: Klar müssen wir weiter regulieren, gerade TikTok. Aber es ist auch nicht gesund, wenn wir in Europa immer nur regulieren, während die Innovation woanders, in China und den USA, stattfindet. Noch mal: Wir müssen uns dringend zusammentun und über die Schaffung einer europäischen digitalen Öffentlichkeit diskutieren. Ich habe natürlich nicht auf Anhieb eine Gesamtlösung parat. Aber ich weiß, dass daraus nie etwas wird, wenn Deutschland an einer Idee bastelt, wir in Großbritannien etwas anderes versuchen, und die Dänen oder Esten machen auch ihr eigenes Ding.
SPIEGEL: Im Jahr 2000 hatte noch nicht einmal jeder zweite Haushalt in Deutschland einen Internetzugang, heute ist künstliche Intelligenz aus vielen Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken. Führt dieser rasante Wandel zu Verunsicherung, die sich in Radikalismen entlädt?
Garton Ash: Nicht nur die digitale Welt, unsere ganze Lebenswelt hat sich radikal verändert in dieser Zeit. Die Gesellschaft, die Kultur, zwischenmenschliche Beziehungen, das Alltagsleben. Und all das fließt zusammen zu einer klassischen Reaktion der Menschen, die diesen Wandel erleben. Daher kommt übrigens das Wort »reaktionär«: Der Grundimpuls der antiliberalen, nationalistischen, populistischen Haltung ist eine Reaktion. Es ändert sich zu viel, zu schnell, ich erkenne mein Land nicht wieder, meine Stadt nicht wieder. Ich möchte das Alte zurück. Das muss man erst einmal verstehen.
SPIEGEL: Vielleicht ist es aber auch banaler, und unsere Aufmerksamkeitsspanne reicht eben nur noch für knackige Formeln der Populisten: Sie hat sich in den vergangenen 20 Jahren von zweieinhalb Minuten auf 47 Sekunden verringert.
Garton Ash: Andererseits besteht unser Leben nicht nur aus Tweets und Videoschnipselchen. Unglaublich populär sind inzwischen Podcasts, vor allem auch bei jungen Leuten. Da hört man in aller Ruhe 40 Minuten lang einfach nur zu.
SPIEGEL: Rechte Populisten beherrschen auch das Langformat: 75 Minuten dauerte das Gespräch zwischen Elon Musk und Alice Weidel auf X.
Garton Ash: Musks Medienmacht wird missbraucht, um die Wahlen in anderen Demokratien zu beeinflussen. Neben populistisch-nationalistischen Wahlerfolgen in Ländern wie Italien, Frankreich, Österreich und den USA fürchte ich sehr, dass dies die AfD für viele Menschen in Deutschland weiter normalisiert und salonfähig macht.
We need to be tough on populism, tough on the causes of populism
SPIEGEL: Nach aktuellen Umfragen in Österreich liegt die teils rechtsradikale FPÖ bei etwa 36 Prozent der Stimmen, in Italien herrscht Meloni. Über Frankreich, Ungarn, USA und China haben wir schon geredet. Hat die liberale Demokratie ausgedient?
Garton Ash: Überhaupt nicht. Ich finde solche Angstprognosen viel zu melodramatisch. Den Liberalismus gibt es seit 300 Jahren, und er hat viele große Krisen durchgemacht, man denke nur an die Dreißigerjahre und den Zweiten Weltkrieg. Da hieß es auch immer, der Liberalismus sei am Ende. Diese liberale Ordnung zu bewahren, ist eine große Herausforderung, sicher, wir müssen uns wirklich besinnen und viel radikalere Lösungen finden. Aber den Liberalismus wird es weiterhin geben.
SPIEGEL: Welche Lösungen?
Garton Ash: »Tough on populism and tough on the causes of populism«, um Tony Blair abzuwandeln, also ganz scharf gegen die Populisten angehen, aber auch ganz tief zu den Ursachen dafür vordringen. Beispiel Migration: Wir müssen einerseits antiliberale und auch rechtswidrige Lösungen wie »Re-Migration« strikt ablehnen – und nicht wie die CDU gelegentlich oder die britischen Konservativen mit dieser Rhetorik liebäugeln. Andererseits müssen wir tatsächlich die illegale Einwanderung unter Kontrolle bekommen. Und zugleich immer wieder betonen, was für eine unglaubliche Bereicherung die Einwanderung für unsere Gesellschaften ist – und welch wirtschaftliche Notwendigkeit.
… and the German election…?
SPIEGEL: Wie schauen Sie auf den Wahlkampf derzeit in Deutschland?
Garton Ash: Ich verfolge den Wahlkampf ganz genau, und wenn ich in die deutschen Medien schaue, bekomme ich fast den Eindruck, wir lebten noch in Friedenszeiten. Die großen Themen sind Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik, Einwanderung, Integration. Aber wir leben in Kriegszeiten. Wir erleben den größten Krieg in Europa seit 1945, und er dauert bald drei Jahre. Schreckliche Kriege im Nahen Osten mit vielen Zehntausenden zivilen Opfern. Einen großen, fast unbemerkten Krieg in Sudan. Aber in Deutschland scheint das noch nicht wirklich angekommen zu sein.
SPIEGEL: Was bräuchte es denn, damit das Mindset der Deutschen sich ändert und alle verstehen, vor welchen Herausforderungen wir wirklich stehen?
Garton Ash: Im Wahlkampf, bei allen öffentlichen Gesprächen und Begegnungen mit Wählern müssen all die Themen, über die auch wir hier reden, Gesprächsstoff werden. Es ist ja nicht so, dass niemand kapiert hätte, worum es wirklich geht. Stichwort europäische Verteidigung: Zum ersten Mal seit 80 Jahren müssen wir Europäer bereit sein, uns selbst zu verteidigen. Der neue Verteidigungskommissar der EU sagt, das bräuchte 500 bis 600 Milliarden Euro. Aber wie kommen wir dahin? Wie machen wir das? Das muss offen und ernsthaft überall diskutiert werden. Sonst steht die Regierung irgendwann vor dem Problem, dass sie entscheiden muss, die Bevölkerung aber gar nicht darauf vorbereitet ist und sie keine demokratische Legitimation für solche weitreichenden Beschlüsse hat.
What's needed for a sustainable peace in Ukraine
SPIEGEL: Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung in puncto Ukrainekrieg?
Garton Ash: Trump wird sich nicht um die Sicherheit der Ukraine scheren. Und machen wir uns nichts vor: Im Moment gewinnt Russland diesen Krieg. Das war nicht unabdingbar. Es ist die Folge von Entscheidungen – und fehlenden Entscheidungen. Aber die Ukraine kann noch gewinnen.
SPIEGEL: Wie?
Garton Ash: Leider nicht, indem sie in nächster Zeit das ganze Territorium zurückerobert. Ich war neulich wieder in der Ukraine; dort glaubt fast niemand, dass dies zeitnah möglich wäre. Aber indem der Teil des Territoriums, den die Ukraine noch kontrolliert, ungefähr 80 Prozent des Landes, Teil des Westens wird. Wie damals Westdeutschland in den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Das bedeutet Wirtschaftshilfen, Wiederaufbau, die EU-Mitgliedschaft in fünf, sechs Jahren. Und wenn nicht die Nato-Mitgliedschaft, denn da macht Trump nicht mit, dann umso mehr glaubwürdige europäische Sicherheitsgarantien.
SPIEGEL: Inklusive konkreter militärischer Unterstützung?
Garton Ash: Unbedingt, es muss ja als glaubhafte Abschreckung funktionieren. Das kommt in den kommenden Wochen und Monaten auf uns Europäer zu. Aber darüber spricht kaum jemand im deutschen Wahlkampf.
SPIEGEL: Was geschieht, wenn es nicht so kommt?
Garton Ash: Dann werden wir eine neue Auswanderungswelle aus der Ukraine bekommen – all die jungen Leute werden gehen. Und kein einziger Investor wird sein Geld dort ohne handfeste Sicherheitsgarantien anlegen.
SPIEGEL: Deutschland fürchtet sich davor, mit einem Angebot zu einer EU-Mitgliedschaft oder auch nur mit Waffenhilfe Putin zu provozieren. Ist diese Angst gerade in einer Zeit, in der man sich auf die USA nicht mehr verlassen kann, wirklich unberechtigt?
Garton Ash: Damit kann ja nur die Angst gemeint sein, dass Russland Atomwaffen einsetzt. Es gab neulich eine interessante Studie zu chinesischen Analysen des Ukrainekriegs. Eine der Schlussfolgerungen, die die Chinesen gezogen haben, ist: Nukleare Bedrohung funktioniert. Und genau damit spielt Putin, seit Jahren schon.
SPIEGEL: Weil wir wissen, dass Putin die Angst vor einer nuklearen Eskalation ausnutzt, sollen wir keine Angst mehr davor haben?
Garton Ash: Ich glaube, Sie liegen mit diesem Denkmuster falsch. Sie müssen die Frage andersherum stellen: Was ist, wenn wir nicht für die Sicherheit der Ukraine sorgen? Dann haben wir ein bewaffnetes, instabiles Nachbarland voller Wut auf den Westen. Und einen Putin, der sich sehr bestärkt fühlt, weiterzumachen mit dem hybriden Krieg, den er schon jetzt gegen uns führt. Weitere Mächte werden ermuntert, sich militärisch zu nehmen, was ihnen angeblich zusteht. Vor allem würde dies die Weiterverbreitung von Atomwaffen massiv beschleunigen.
SPIEGEL: Inwiefern?
Garton Ash: Als eines der ganz wenigen Länder in der Geschichte hat die Ukraine nukleare Waffen freiwillig abgegeben – und wurde brutal angegriffen. Die Schlussfolgerung, dass es damals falsch war, auf das Atomarsenal zu verzichten, ziehen die Ukrainer bereits: Bei einer neuen Umfrage waren 73 Prozent für das Wiedererlangen von Nuklearwaffen. Aber auch Südkorea und Länder im Nahen Osten kommen schon auf die Idee, sich wieder Atomwaffen zu besorgen.
SPIEGEL: Welche politische Kraft sehen Sie in Deutschland, die sich für eine solche Ukrainepolitik einsetzen könnte?
Garton Ash: Deutschland stünde ja nicht allein da, es wäre auch hier eine gesamteuropäische Strategie gefragt. Und dazu ist die Bereitschaft prinzipiell da, in Frankreich mit Macron, in Großbritannien, in Polen und in den baltischen und skandinavischen Ländern. Aber damit die Abschreckung glaubwürdig wird für Putin, braucht es dazu Deutschland. Bei den Grünen und Teilen der CDU sehe ich dieses Bewusstsein schon.
A little optimism, please…
SPIEGEL: Wie optimistisch sind Sie für die kommenden Jahre für die Ukraine? Für Europa?
Garton Ash: Ich kann keine Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs identifizieren, in der die zentripetalen und die zentrifugalen Kräfte, also die der Integration und Desintegration, sich so die Waage hielten. Entscheidend wird in den kommenden zwei, drei Jahren sein, welche Kräfte stärker sind, wie Europa sich entwickelt. Das steht nicht in den Sternen, das kann kein Historiker voraussehen. Es liegt an uns. Wir stehen weltpolitisch an einem Wendepunkt.
SPIEGEL: Weiß die Generation unserer Kinder, die bisher nur Frieden und Stabilität erlebt hat, wie kostbar das in den vergangenen Jahrzehnten in Europa Erreichte ist?
Garton Ash: Deswegen schreiben wir Geschichtsbücher, deswegen dreht man Dokumentarfilme: um es hinzubekommen, dass Menschen aus der Geschichte lernen können, ohne selbst das alles wieder erleben zu müssen.
SPIEGEL: Professor Garton Ash, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
This conversation is reproduced here with kind permission from Der Spiegel. It may not be further reproduced without their permission. If citing, please use this link. The English subtitles have been inserted for this newsletter.
I will be writing more about the German election, and the historic opportunity that Germany has if it will only seize it, in my next History of the Present bulletin.
Many thanks for these comments.
A small correction: a friend has pointed out that the Adam Mars-Jones text is a (long) short story, not a novel. It comes in his book Lantern Lecture.
The B is reminiscent of how some folks will cherry-pick scripture to justify positions, pretending (as you said) that there is a coherent through-line proving their point.
You can draw any picture you want when the page is filled with enough dots.